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Zur Zukunft der Innenstädte: Was die Digitalisierung leisten kann

Der stationäre Einzelhandel hatte in den vergangenen Jahren zunehmend zu kämpfen: Eine Verschiebung hin zum E-Commerce sorgte für kleiner werdende Besucherzahlen und sinkende Umsätze. Den traurigen Höhepunkt fand diese Entwicklung im Corona-Lockdown. Doch nicht erst seitdem werden die Stimmen, die eine Digitalisierung zur Rettung des Einzelhandels fordern, immer lauter. Wie sieht eine digitale Zukunft für den stationären Handel? Welche Potenziale liegen in der Digitalisierung? Welche Art von Läden wollen Kunden in den Innenstädten sehen?

Eva Gancarz, Expertin für die Digitalisierung im Einzelhandel und erfahren in Projekten mit dem stationären Einzelhandel und Städten, gibt im Interview ihre Einschätzung ab.

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Welchen Stellenwert nimmt der Einzelhandel heutzutage in den Innenstädten ein? Hat er noch eine Daseinsberechtigung oder hat er sich selbst überlebt?

Klar ist: Das Gesicht der Städte in Deutschland verändert sich. Auslöser dafür sind neue Trends im Shoppingverhalten der Kunden, der demographische Wandel und der boomende Online-Handel. Dennoch ist der Einzelhandel auch heute noch wichtig. Neben dem Wohnort und dem Arbeitsort versteht er sich als ein Dritter Ort. Durch ein attraktives kulturelles Angebot, eine moderne Infrastruktur und eine attraktive Innenstadtgestaltung kann der Einzelhandel wieder zum Erlebnisort werden.

Auch aktuell leistet er noch einen grundlegenden Beitrag zu vitalen Innenstädten und ihrem Erhalt – obgleich der Online-Handel eine Verschiebung der Konsumenten in Richtung des Internets mit sich zieht. Ohne den Einzelhandel hätten Besucher keinen Grund mehr, in die Innenstadt zu kommen. Der Einzelhandel ist ein wichtiger Teil des Branchenmixes, neben der Gastronomie, Ärzten, der öffentlichen Bibliothek, der Arbeit und dem Wohnen. Ein gut in die Stadtstruktur integrierter Einzelhandel zieht zudem Shoppingtouristen an, auch von außerhalb Europas. Als Besuchermagnet profitieren auch Gastronomen, Hotellerie und Kulturbetriebe von einem lebendigen Einzelhandel.

Nicht zu vergessen: Der Einzelhandel ist wichtigster Steuerzahler der Städte und Gemeinden, über die Gewerbesteuer finanziert er die Infrastruktur. Er ist der größte Arbeitgeber und drittgrößter Wirtschaftssektor in Deutschland.

Welche alternativen Szenarien gibt es zu den typischen Fußgängerzonen? Wie sollten „neue Innenstädte“ aussehen?

Wichtig ist ein interessanter Branchenmix, eine Vielfalt an Geschäften und Attraktionen und Events, die die Regionalität leben. Leider ist der Filialisierungsgrad in unseren Städten dafür verantwortlich, dass Individualität verloren gegangen ist und inhabergeführte Läden vertrieben wurden. Viel ist heutzutage 0815 und das wird künftig nicht mehr funktionieren. Wir brauchen neue Konzepte, Quartiere mit Charakter!

So müssen leerstehende Geschäfte umgenutzt werden, zum Beispiel als Pick-up-Stations, Co-Working-Spaces oder auch kurzfristig für kreative Projekte. Arbeiten, Wohnen, Kultur und Shopping müssen sich mehr vermischen. Ein möglicher Ansatz wäre die Verkürzung von Einkaufsstraßen oder die autofreie Innenstadt. Dennoch muss sie gut erreichbar sein, etwa durch die Erweiterung von Park-and-Ride-Angeboten, moderne Parkleitsysteme, den ÖPNV-Ausbau und eine fahrradfreundliche Infrastruktur. Daneben ist vielerorts eine Modernisierung der Fassaden nötig. Eine Begrünung der Innenstädte, Sauberkeit, abgestimmte Weihnachtsbeleuchtung und Blumenschmuck verschönern zusätzlich den Aufenthalt in der Innenstadt. Im zentralen Stadtgebiet sollte es außerdem kostenloses W-LAN geben, schließlich wollen die Menschen heutzutage überall ihr Smartphone bequem nutzen können.

Auch die Geschichte einer Stadt ist ein Mehrwert – lassen wir die Menschen sie über Virtual Reality erleben. Wir müssen den Konsumenten zeigen, dass sich ein Besuch in der Innenstadt lohnt und Freude macht. Kurz: Wir brauchen Erlebnisorte.

Welche Rolle spielt die Digitalisierung dabei? Und was wollen die Konsumenten?

Ein aktueller Studienbericht des Branchenverbands Bitkom unterstreicht einmal mehr, wie wichtig es für lokale Gewerbetreibende ist, sich in Sachen Digitalisierung zu professionalisieren. Der Bericht vom Juli 2020 berücksichtigt die Auswirkungen der Pandemie auf das Kaufverhalten. 66 Prozent der befragten Konsumenten gaben darin etwa an, weiter vor Ort einkaufen zu wollen – dem Händler „die Treue zu halten“ –, sofern dieser mit einem Online-Angebot in der Region präsent ist.

Der erste Schritt zum Erfolg ist, dass Einzelhändler und Gastronomen in den Innenstädten auch tatsächlich gefunden werden – und dafür ist heute nun einmal die digitale Sichtbarkeit unerlässlich. Schauen Sie sich dazu Ihr eigenes Suchverhalten an. Das Smartphone ist immer griffbereit und dank Google und Google Maps sind Fragen schnell beantwortet.

Es ist wichtig, dass die Akteure in der Innenstadt ihre Konsumenten direkt adressieren, sodass sie einen Grund für den Besuch in der Innenstadt haben. Der stationäre Einzelhandel muss dazu seine Kunden besser kennenlernen und zum Onlinehandel aufholen. Dort sind meist viele Kundendaten bekannt und Newsletter, Aktionen und Rabatte können gezielt und personalisiert ausgespielt werden. Das muss künftig auch stationär funktionieren.

Und auch die Konsumenten selbst müssen ins Boot geholt werden, etwa über Bürgerbeteiligungen oder bei der Umsetzung von lokalen Online-Marktplätzen und Kundenbindungsprogrammen. Denn ansonsten erleben wir das Henne-Ei-Problem: Wo kein Händler, da keine Kunden und vice versa.

Welche Lösungen sind zudem sinnvoll, um das Geschäft zu digitalisieren? Was sind Grundlagen?

Google My Business ist eine zwingende Voraussetzung für jedes Geschäft. Wie Katharina Birkholz von der Online Solutions Group verlauten ließ: „Personen, die ihr Smartphone oder Tablet für die Suche nach einem Service verwenden, werden mit einer um 57 % höheren Wahrscheinlichkeit das Geschäft auch besuchen, 40 % mehr Anrufe tätigen und 51 % häufiger einen Kauf tätigen.“

Einzelhändler sollten zusätzlich Branchenbucheinträge wie Gelbe Seiten oder Trip Advisor sowie weitere Local Citations nutzen. Bei einer eigenen Website sollte die Sichtbarkeit durch Suchmaschinenoptimierung gesteigert werden. Beim Aufbau von Social-Media-Präsenzen geht Qualität vor Quantität – hier sollte also gut überlegt werden, wie und mit welchen Inhalten ich auftrete. Anzeigen in den Social Media oder Google Ads können sinnvoll sein, um eine größere Kundengruppe anzusprechen.

Außerdem sollten lokale Online-Marktplätze und lokale Kundenbindungsprogramme, vielleicht ja sogar unter dem Dach einer Smart City, als Gemeinschaftsprojekte einen hohen Stellenwert einnehmen. Ein schönes Beispiel für einen lokalen Online-Marktplatz findet sich in Luxemburg. Auf letzshop.lu können lokale Gewerbetreibende ihr Angebot online präsentieren und digital sichtbar werden. Während des Lockdowns konnte darüber sogar eine Notversorgung von Risikogruppen etabliert werden.

Welche Akteure sehen Sie in der Pflicht, um den Einzelhandel zu digitalisieren?

Zunächst einmal müssen die Einzelhändler selbst tätig werden. Aber auch Wirtschaftsförderungen, Werbegemeinschaften und IHKs haben eine Verantwortung. Jeder Standort sollte einen „Kümmerer“ haben, der den Weg des Einzelhandels in die Digitalisierung zentral vorantreibt und das große Ganze im Blick hat. Dazu gehören auch das Leerstandsmanagement, Stadtfeste oder Weihnachtsaktionen. Den Geschäften vor Ort muss der Zugang zu einer IT-Infrastruktur erleichtert werden, um darüber E-Commerce-Funktionen für den lokalen Absatz abzubilden. Das ist eine kostengünstige Alternative zu unternehmenseigenen Online-Shops, die weitere Aufwände mit sich ziehen wie Suchmaschinenoptimierung, und eine Möglichkeit, die Frequenz in den Innenstädten zu steigern.

Woran hapert es bei der Umsetzung?

Die Gründe sind vielfältig. Oft scheitern neue Konzepte am mangelnden Problembewusstsein. Einige Händler sind unmotiviert, anderen fehlen zeitliche oder personelle Ressourcen. Auch die Kooperationsbereitschaft und die Kommunikation zwischen den Stakeholdern lässt mitunter zu wünschen übrig. Jedoch ist es wichtig, dass sie zusammenarbeiten und ihre Arbeit koordinieren, um das gesamte innerstädtische Einzelhandelsangebot attraktiver zu gestalten und es auch online erfolgreich zugänglich zu machen.

Innenstädte müssen sich stärker profilieren, es geht dabei um ein multifunktionales Angebot, Aufenthaltsqualität, Ambiente und Flair. Hier fehlt bislang der „Kümmerer“, der antreibt, koordiniert und das City-Management und -Marketing stärkt. Als eine große Herausforderung sehe ich außerdem, dass zu wenige Change Manager in unseren Städten unterwegs sind, die die Gewerbetreibenden vor Ort sensibilisieren und zu digitalem Know-how schulen.

Über Eva Gancarz

Eva Gancarz ist studierte Wirtschaftsförderin und beschäftigt sich bereits seit über zehn Jahren mit dem Thema der Digitalisierung des Einzelhandels. Seit 2019 ist sie als Beraterin und Projektmanagerin bei cima.digital tätig. Dort arbeitet sie gemeinsam mit Städten, Gemeinden und stationären Einzelhändlern an zukunftsfähigen Lösungen.

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